Einblicke in den Kompositionsprozess - Teil 1

Für Ihre Lukas-Passion haben Sie kein vorgegebenes, historisch verbürgtes Libretto benutzt. Warum nicht ?

Rudolf Kelber:
Es war einfacher am (leicht gekürzten) Evangelientext entlangzugehen und passende Choralstrophen unter den 185 einzeln überlieferten Choralsätzen zu finden und vorhandene Kantatenarien samt Originaltext auf das Passionsgeschehen umzudeuten.

Können Sie uns das „Umdeuten“ anhand von Beispiele erläutern ?

RK:
Die Sopran-Arie Nr. 15 „Wie zweifelhaftig ist mein Hoffen“ wurde z.B. wörtlich aus der Kantate Nr. 109 übernommen und korrespondiert bestens im Bezug auf Petrus nach Jesu Ankündigung des Verrats.

Auch die wörtlich Übernahme der Altarie Nr. 24, „Ach, schläfrige Seele, wie, ruhest du noch?“ aus der Kantate BWV 115 „Mache dich mein Geist bereit“ in die Szene mit den schlafenden Jüngern in Gethsemane ist passgenau.

Ebenso geht die Rechnung auf mit Nr. 33 „Ich folge Christo nach“ aus BWV 12 für Petrus vor der Verleugnung und Nr. 35 „Erbarme dich“ aus BWV 55 für nach der Verleugnung und dem „weinete bitterlich“.

Diese vier Arien ließen sich 1 : 1 in das Passionsgeschehen einfügen. Das Gleiche gilt auch für den Chor „Aller Augen warten auf dich“ aus BWV 23, der nach den Einsetzungsworten wunderbare Wirkung tut.


Anmerkung der Redaktion:
Die Kantatentexte der o.g. Bach-Kantaten sind hier abrufbar (bitte jeweils die *** durch die Nummer der Kantate ersetzen): http://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/***.html